270.000 Pilger/innen waren im Vorjahr auf dem Jakobsweg unterwegs. Vor drei Jahrzehnten lag die Zahl gerade mal bei 200. Seit über tausend Jahren gibt es diesen Pilgergweg, haben Menschen Hoffnung und Hilfe, auch Abwechslung und Abenteuer gesucht. Und auch heute gibt es Wallfahrten zu Fuß und per Fahrrad, es gibt Bikerwallfahrten und Oldtimerwallfahrten, die Landeswallfahrt am 1. Mai nach Rankweil oder die Diözesanwallfahrt am 6. Mai nach Einsiedeln.
Warum ist Wallfahren wieder modern? Den eigenen Weg suchen und finden – ausgetretene Pfade verlassen – der eigenen Sehnsucht folgen – Loslassen und Aufbrechen – Beten mit den Füßen. Es gibt viele gute Gründe dafür. Alle Religionen kennen Wallfahrten in unterschiedlichen Formen. Darin drückt sich die Grundüberzeugung aus, dass menschliches Leben immer ein Unterwegs-Sein ist hin auf ein Ziel. Hin zu Gott.
Die Erfahrung von Erschöpfung bleibt wohl keinem erspart. „Burnout“ ist ein moderner Begriff dafür. Ein wirksames Gegenmittel ist die Achtsamkeit – für den eigenen Körper, für Gedanken und Gefühle, die meinen Alltag prägen, aber genauso Achtsamkeit gegenüber dem, was in meiner Umwelt vor sich geht – an Gutem, aber auch an Leid und Not. Wallfahren ist ein Weg der Achtsamkeit. Wer als Wallfahrer/in unterwegs ist, übt diese Achtsamkeit ein. Die Aufmerksamkeit für die Geschenke der Schöpfung ist eine Hauptstraße in das Geheimnis Gottes.
In unserer Berufswelt ist oft nur ein einzelner Aspekt unseres Wesens gefragt: körperliche, organisatorische, geistige Fähigkeiten. Wallfahren dagegen nimmt den ganzen Menschen in Anspruch. Die gleichförmige Bewegung und körperliche Anstrengung führen zu gedanklicher Klarheit und Konzentration auf das Wesentliche. Das Gehen und Unterwegssein stärkt und heilt Leib und Seele. Wallfahren kann ein Anker für die Sehnsucht des Herzens sein. Ob in Beziehungen, im Beruf, in Freudvollem oder in Krisen – entscheidend ist immer, wo ich mein Herz verankert habe. „Binde deinen Karren an einen Stern“, rät Leonardo da Vinci.
Wallfahren bedeutet auch das Vertrauen auf einen heiligen Ort. Es gibt besondere Orte, an denen etwas wie Sakrament, Segen und Heil spürbar wird. Nicht umsonst sind Wallfahrtsorte meist an einzigartigen Stellen in der Landschaft, in der Natur zu finden. Sie sind Kraftorte.
Das erinnert mich an die Erzählung eines jungen Familienvaters. Wenn er seine Frau umarmt und seine kleine Tochter das beobachtet, dann stellt sie sich zu ihnen und umarmt beide zusammen. Aus der Umarmung der Eltern, aus dieser Situation von Liebe, Zärtlichkeit und Empathie, strömt für das Kind unendlich viel Kraft und Lebensmut. Eltern, die sich umarmen, sind in diesem Sinn ein Kraftort, wie es ein Wallfahrtsort sein kann, wo ich die Erfahrung mache, Gott ist da, er geht mit mir.
Der Mai ist eine Zeit der Wallfahrten. Ich wünsche uns das geistliche Geschenk, dass er auch für uns ein Monat der Kraft, des Vertrauens und der Gelassenheit wird.
Bischof Benno Elbs